Meine Damen und Herren, liebe Freunde,
der Mensch, der Künstler, kommt nicht aus der Luft, sondern irgendwoher. So wenig es mir liegt, historische, materialistische, soziologische Momente allzusehr herauszustellen, herauszustreichen: auch der freieste Künstler noch ist jemand, der aus einem in sich selbst gebundenen Ort kommt. Das ist im Falle meines Freundes Josef Mikl Wien. Nicht - nicht mehr - das Wien der Jahrhundertwende, künstlerisch verstanden: das Wien eines Klimt, eines Schiele, eines Josef Hoffmann, Metropole eines irdischen Weltreichs von merkwürdiger Faszination, Hauptstadt, in der sich - bei allem politischen Widerstand - alle Völker des Ostens Auskunft holten, so daß auch Figuren wie der große tschechische Maler Franz Kupka (um nur ein Beispiel zu nennen) ohne die Anregung und Formung der Weltstadt Wien gar nicht zu denken wären ... Das Wien Josef Mikls ist ein anderes, verwandeltes, von immer noch merkbarer Faszination, es ist seines. Sein Background, Ort des Ärgernisses und dennoch auch Ort seines Echos. Gar nicht so irreal, irreal historisierend, wie wir es von hier aus sehen mögen, sondern immerhin Ort von Hoflehner und Wotruba; von Qualtinger und H. C. Artmann - um endlich (gestatten Sie es dem Theaterkritiker) auch ein paar Namen aus dem Reich der Sprache zu nennen. Einer sehr eigenwilligen, uns so vertrauten wie exotisch fernen Sprache.
Stadt einer verzerrten Monumentalität, wo der Geist (wenn er überhaupt weht) eine uns sehr erschreckende Schärfe annehmen kann - und nichts mehr von der albernen Gemütlichkeit hat, die man dem Ort anzuhängen so gern bereit ist.
In diese Schärfe, in diese verzerrte Ritterlichkeit, in diese alte große Weite, Grenzzone von bedrohlicher Offenheit und Unbegrenztheit, gehört Mikl. Sein Österreich geht, weht, schwebt von Kärnten und vom Neusiedler See bis an die Grenzen Chinas, gegenwärtig verstanden bis an die Grenzen Mao Tse-tungs. Ich will ihm und uns keine Rote Garde an den Hals wünschen - aber auch als Maler oder vielmehr gerade als Maler weiß, ahnt und spürt er etwas von dem wehenden, uns alle umgrenzenden, aber auch umfassenden und bedingenden riesigen Nichts. Da schweben keine Kaiserkronen mehr, da ist auch die Selbstsicherheit eines alle bergenden Katholizismus ins Wanken geraten, da sind die goldenen Ranken (von denen der „West-östliche Diwan" spricht) verblaßt, da sind Reime, wenn sie überhaupt noch existieren, dem Staub, dem beweglichen, eingezeichnet, und alles überweht der Wind einer grausig-grandiosen Vergänglichkeit. Dennoch ist es Kunst, was da entsteht, Malerei, reines Malen mitunter, von einer selbstwehenden Schönheit und Intensität, die jeden erfaßt, der sich diesen Werken gegenüberstellt. Jeden Betrachter? Ich stünde hier sonst nicht, meine verehrten Hörer - ich darf das mit brutaler Offenheit sagen. Die Zeit konformistischen Herumredens ist - in der Kunst zumindest - endgültig vorbei.
Was wir sehen, was wir hören, was wir machen, sind Warnzeichen, deren ästhetischer Wert vielleicht schwankt, deren politisch-humane Bedeutung hingegen an Würde und Verantwortung - in dieser unserer Welt nach Auschwitz - nur zunehmen konnte, zunehmen mußte. Es sind Bausteine einer Gegenwelt.
Wenn wir aufhören, diese wahrzunehmen und für wahr zu halten, betrügen wir uns um das einzig Menschliche unserer Existenz. In diesem Sinne begrüße ich, was hier hängt. Es ist höhere Wirklichkeit, malerisch realisiert. So ist es Realismus, kein Illusionismus. Mikl tut das, was andere zu tun versäumen.
Albert Schulze-Vellinghausen: Zur Eröffnung einer Ausstellung. [Die Eröffnungsrede wurde am 2. 4. 1967 im Museum Gladbeck im Schloß Wittringen gehalten.] In: Josef Mikl (Hrsg.): Josef Mikl. Monographie. Wien, 1979, S. 20 (mit Texten von Otto Breicha, Günter Busch, Werner Hofmann, Fritz Koreny, Otto Mauer, Josef Mikl, Albert Schulze-Vellinghausen).