Otto Hans Ressler, Der Mikl - Ein Roman, 2015

Leseprobe

Dann sagte Boeckl: „Es gibt zwei Arten von Kunst, was meinen Sie, Herr Kollege?“

Ich antwortete: „Ja, Herr Professor. Gute und schlechte!“

 

Mehrere Kommilitonen in unmittelbarer Nähe lachten.

„Da haben Sie nicht Unrecht“, schmunzelte auch Boeckl. „Aber ich habe etwas anderes gemeint.“ Er richtete sich auf und hob seine Stimme. „In der ganzen Kunstgeschichte gibt es nur diese beiden Auffassungen. Die eine ist die Auffassung Griechenlands, die die Welt als ein geometrisches Muster sieht. Die andere ist die Auffassung Persiens, Indiens und Chinas, die die Welt als eine Blume sieht. Cézanne und Picasso malen die Welt als Geometrie. Van Gogh, Renoir, Kandinsky und Chagall malen sie als Blume. Ich, beispielsweise, bin ein Geometriker. Ich arbeite Zylinder, Würfel, Dreiecke und Kegel heraus. Die Welt ist für mich Struktur, und Struktur ist für mich Geometrie. Ich sehe die Welt erfüllt von Linien und Winkeln. Aber ich sehe sie auch wütend und hässlich und nur gelegentlich schön. Sie erfüllt mich öfter mit Abscheu als mit Freude. Hören Sie mir zu, Herr Kollege?“

 

Ich nickte bloß. Als ich aufblickte, sah ich, dass die anderen Studenten aufgehört hatten zu zeichnen und gebannt zuhörten.

„Die Welt ist ein schrecklicher Ort“, sagte Boeckl. „Ich male nicht, um sie als einen schöneren Ort zu zeigen, als er ist. Ich male, um meinen Gedanken darüber, wie elend die Welt in Wahrheit ist, Ausdruck zu geben. Nichts ist wirklich für mich außer meinen Gefühlen. Nichts ist wahr für mich außer meinen Gefühlen, so wie ich sie in meinen Bildern ausdrücke. Ich weiß, dass diese Gefühle wahr sind.“

 

Er machte eine Pause, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und senkte den Kopf.

„Denn wenn sie nicht wahr wären“, jetzt flüsterte er fast, aber jeder konnte ihn verstehen, weil niemand sich bewegte. „Denn wenn sie nicht wahr wären, wären sie eine Kunst, die ebenso schrecklich ist wie die Welt.“

 

Ich holte tief Luft, drehte meinen Bogen um und begann eine neue Skizze. Unser Modell, ein junges, dralles Mädchen, saß ganz still. Der Scheinwerfer, der auf sie gerichtet war, vermittelte den Eindruck, als wäre sie in Sonnenlicht gebadet. Ich schaute sie an und arbeitete mit größter Sorgfalt. Ich übertrug ihren Körper in Striche, Linien und Zeichen. Jede leichte Veränderung der fließenden Formen ihres Körpers erforderte eine Veränderung in der Wahl der Mittel. Ich begann eine dritte Zeichnung. Herbert Boeckl war inzwischen wieder hinuntergegangen und bedeutete der jungen Frau, sich neu zu positionieren. Sie beugte sich jetzt auf ihrem Stuhl nach vorne, das Gesicht in den Händen. Ihre Brüste hingen schwer herab. Ich fertigte zwei Zeichnungen in dieser Stellung an. Dann stellte sie ein Bein auf den Stuhl und umschlang es mit den Armen. Ihr Kinn ruhte auf dem Knie, ihre Schenkel waren offen. Ich zeichnete sie auch so.

 

Als nach einer Stunde die Pause begann, hörte ich nicht auf zu zeichnen. Aus meinem Gedächtnis zeichnete ich das Modell weiter und weiter. Wenn eine Zeichnung fertig war, riss ich das Blatt ab und legte es auf den Boden. Boeckl kam, wieder unbemerkt von mir, und hob den Stoß Zeichnungen auf. Das letzte Blatt hielt er hoch.

„Sehen Sie es?“ fragte er leise.

Ich sah es.

 

 

 

Wenn sie in den Filmen anfingen, Kopieren als authentische künstlerische Disziplin darzustellen, würden tausende und abertausende Epigonen aus ihren Löchern kriechen. Die Fließband-Akrobaten würden behände umdenken; viel ändern müssten sie ja ohnedies nicht. Allerdings wäre es dann besser, die Akademie gleich zuzusperren und das Kreuz über die Kunst zu machen. Weil Nachahmung nichts mit Kunst zu tun hat. Sie ist das Gegenteil davon. Wenn das Kunstwerk Schöpferkraft verkörpert, wenn es ein Symbol des Ideals der Freiheit des Individuums ist, dann ist Kopieren ein Symbol geistiger Unfreiheit. Geistiger Enge. Mit einem Wort: Des Sumpertums. Des totalen Scheiterns dieses Ideals.

 

Es ist aber vor allem ein ganz persönliches Scheitern. Es unterminiert die eigene Kreativität, wenn man eine fremde Darstellungsweise nachahmt. Es lässt die Phantasie verkümmern, wenn man andere Ideen als seine ausgibt. Es erstickt die eigentümliche Intuition, wenn man eine fremde Handschrift imitiert. Der Künstler, der darauf verzichtet, seine ganz persönliche künstlerische Realität aufzubauen, verkommt zu einem Vermittler fremder Gedanken und Absichten. Er sollte besser zuhause bleiben und Zeitung lesen. Das ist zwar nutzlos und schädlich; aber nur für ihn selbst. Wenn er sich mit fremden Federn schmückt, schadet das ihm, weil er so nicht weiterkommt. Es schadet aber vor allem demjenigen, dessen Federn er sich angeeignet hat, weil dieser es nicht mehr authentisch vermitteln kann. Und damit schadet es allen. Allen, die an die Kunst glauben.

 

Denn im Gegensatz zu vielen Leuten, die meinen, die Kunst sei funktionsfrei und der Künstler aller Aufgaben ledig, weiß ich, dass vom Künstler eine ganze Menge erwartet wird: Es wird erwartet, dass er etwas schafft, das einzigartig ist, neu und authentisch. Es wird erwartet, dass das, was er macht, ästhetisch überzeugend ist. Es wird erwartet, dass er kritisch ist, dass er einen alternativen Blick auf die Welt wirft. Dass er eine alternative Welt entwirft. Es wird erwartet, dass es ihm gelingt, andere Menschen mit seinem Kunstwerk zu berühren. Dass er Fragen aufwirft, wenn schon nicht beantwortet.

 

Es wird erwartet, dass jedes seiner Bilder eine Welt für sich ist und trotzdem unter dem Eindruck und mit der Erfahrung der Wirklichkeit entstanden. Jedes Bild muss allen Forderungen gerecht werden, selbst solchen, die Narren stellen: der Forderung des Schulmeisters, dem die Form genügt; der Forderung des Oberflächlichen, der nur die Technik sieht; und sogar der Forderung des Trottels, der nichts anderes als den Inhalt verlangt.

 

Das zwingt den Künstler, die Anmutungen der Welt und des Marktes immer wieder aufs Neue zurückzuweisen. Es zwingt ihn, sich immer wieder die Frage zu stellen, ob ihm das, was ihm an seinem Anteil des Schicksals zustößt, nützt. Ob es seiner Kunst nützt. Ob es seiner Unabhängigkeit hilft. Ob es seinen Verstand schärft. Seine Intuition vertieft. Seine Kreativität. Malerei lernen heißt, die Widerstandsfähigkeit des eigenen, wachsenden Hirns zu stärken. Malerei lehren heißt, anderen dabei zu helfen.

 

Malen bedeutet für mich aber auch, dass ich noch immer alles besser machen möchte. Das hat den Nachteil, dass ich immer dieselben Fehler begehe. Aus seiner eigenen Haut kommt niemand heraus. Die frühen Bilder eines Malers können nicht himmelhoch schlechter sein als die späteren, denn entweder hat man es, dann kann man seine Begabung schwerlich potenzieren. Oder man hat es nicht, dann wird man es wohl nie haben. Denn wie soll aus nichts etwas entstehen?

 

 

 

Ich bin ein ungeduldiger Mensch. Extrem ungeduldig. Ich sitze innerlich permanent auf Kohlen. Es gibt keinen Aufzug, der mir schnell genug fährt. Während man im Mittelalter Kopfzwingen und Schädelpressen, Judaswiege und Ketzergabel, Garotte und spanischen Kitzler, Zangen, Knieschrauben und Fußblöcke benötigt hat, um jemanden zu foltern, genügt es bei mir, mich warten zu lassen. Es genügt schon, dass das Teewasser nicht und nicht kochen will. Dass mir jemand etwas erzählt und nicht auf den Punkt kommt. Dass eine Ampel ewig auf Rot steht – was immer der Fall zu sein scheint, sobald ich mich ihr nähere. Wenn ich nicht arbeite, agiere ich, als befände ich mich permanent in einer Camera Silens, in einem „schweigenden Raum“. Er ist schallisoliert und dunkel. Das völlige Fehlen von Sinneswahrnehmungen – und nichts anderes ist Warten für mich – treibt mich in den Wahnsinn. Es ist eine psychische Folter. Ich beginne zu halluzinieren, wenn ich warten muss; und da ist niemand, dem ich mein „abiuro“, mein Abschwören von allen Sünden, zuflüstern könnte.

 

Alles, was außerhalb meiner Arbeit geschieht, geht mir zu langsam. Ich erlebe es als eine einzige höllische Zeitverschwendung. Meine Arbeit hingegen hat alle Zeit der Welt: Um ein wenig genauer hinzuschauen. Um etwas länger nachzudenken. Wenn ich arbeite, habe ich kein Problem, den Dingen ihre Zeit zu geben. Wenn ich arbeite, weiß ich um die Möglichkeiten, die im Zuwarten schlummern. Ich weiß, wie ich die Dinge bis zum Äußersten ausreizen kann. Es spielt keine Rolle, wie viele Stunden oder Tage oder Wochen, wie viel Energie ich darauf verwende – ich investiere sie im Wissen, dass dieser Kraftaufwand wieder nach außen drängen und etwas Neues entstehen lassen wird. Ich kenne das Geheimnis, wie das Neue in die Welt kommt. Das ist nicht allein ein Prozess des Nachdenkens. Es ist das Tun selbst, das das Neue entstehen lässt: ein Blatt, das beschrieben wird. Eine Linie, die gezeichnet wird. Eine Skizze als erste Notiz einer Idee. Ein Bild.

 

Aber für alles andere habe ich keine Geduld. Ich hasse Unpünktlichkeit. Ich hadere damit, dass die einfachsten Dinge so lange dauern. Ich bin wütend, weil ich mich aufgehalten fühle – ich weiß meine Zeit sinnbringender genützt, und wenn ich nur vor einer leeren Leinwand sitze. Kann ich das nicht, werde ich daran gehindert, steigt heiße Wut in mir auf. Ich fühle mich angespannt. Unruhig. Ich kann mich nicht mehr konzentrieren. Ich bin gereizt. Lustlos. Ich würde am liebsten laut schreien. Manchmal tue ich das sogar. Am liebsten würde ich jemanden attackieren, kritisieren, unter Druck setzen. Manchmal tue ich das sogar. Jemand muss doch Schuld daran sein, dass ich meine Arbeit nicht machen kann!

 

Ich habe Probleme mit dem Einschlafen. Immer schon. Ich trinke zu viel. Weil ich unruhig bin. Weil mich meine Gedanken nicht in Ruhe lassen. Weil sich Zorn in mir aufbaut wie eine weiße Flamme. Weil ich irgendetwas tun möchte, um nicht aus der Haut zu fahren. Man hat mir geraten, Situationen auszuweichen, die dazu führen. Aber die Navigationsmöglichkeiten sind eingeschränkt, wenn man mit dem Rücken zur Wand steht. Man hat mir geraten, positiv zu denken. Daran zu glauben, dass es eine Lösung gibt. Aber ich weiß, dass es dafür schon zu spät ist. Es ist ein Wissen, das ich nicht einfach vergessen kann. Man hat mir gesagt, ich solle mich mit etwas beschäftigen, das mir Spaß macht. Dann werde sich meine Stimmung heben. Aber die Stimmung ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass ich nicht machen kann, was mich beschäftigt. Dass ich nicht daran arbeiten kann.

 

Man hat mir geraten, mich von Tag zu Tag zu hangeln. So lange, bis ich alles überschauen könne. Bis ich einzusehen begänne, dass das Gras nicht schneller wachse, wenn ich daran zog. Bis ich lernte, Grenzen zu akzeptieren und loszulassen. Bis ich verstände, dass meine Forderungen irrational seien. Aber Ungeduld entsteht im Kopf und setzt sich im Körper und allen Gefühlen fort. Also muss ich auch in meinem Kopf ansetzen. Andererseits gibt es keine einfachen Lösungen. Man muss den Faden geduldig entwirren. Aber Geduld habe ich nur, wenn ich male. Wenn ich auf den richtigen Zeitpunkt warte.