Josef Mikl, Richard Gerstl und der Österreichische Kunstverstand, 1966

 

Richard Gerstls Stern ging gerade über einer Landschaft auf, die vom Jugendstil verwüstet wurde.

Er leuchtete nicht durch den Widerschein dieser österreichischen Wüste, er holte seine Leuchtkraft nicht aus der unter ihm liegenden Provinz, die überall, auch im ersten Wiener Gemeindebezirk, zu finden ist. Er war kein Komet, der einen kurzen, heftigen Schrein von sich gibt und verschwindet.

Klar und ruhig leuchtet er seither mit dem Lichte eines Sternes erster Größe.

Weiter scheint er als der Österreichische Kunstverstand je denken kann. Dieser Verstand, der damals keine fünf Heller wert war und heute keine fünf Schillinge, drehte sein Fernrohr um und betrachtete Keramik, Glas, Kupfer und Alpaka.

Denn er war immer der Meinung, Kunst müsse vom Kunstgewerbe kommen, sonst bekomme sie nicht.

Richard Gerstl porträtierte Arnold Schönberg und nicht Richard Strauss. (Fritz Wotruba porträtierte Robert Musil und nicht Anton Wildgans.) Über Richard Strauss ist sich der Österreichische Kunstverstand einig. Von Arnold Schönberg darf er behaupten, er werde wohl immer problematisch bleiben.

Von Richard Gerstl behauptet er gar nichts.

Denn unsere gute Mutter Österreich belohnt ihre großen Söhne entsprechend, mit ihrem Österreichischen Kunstverstand als Kassebeamten, der erst auszahlt, nachdem er alle Verdienste geprüft hat.

Jedes aufgeklärte Schulkind weiß, dass dieser Verstand in der letzten Bank sitzt, dass seine Arbeiten in Rückständigkeit, Verantwortungslosigkeit und Unbelehrbarkeit eine Eins verdienen, während er in den Ewigkeitsprüfungen stets versagt.

Darum kann von ihm, ähnlich wie von dem Johann Feigl bei Karl Krausi, gesagt werden: - mag sich ihm –, vor der Entscheidung einer höheren Instanz, seiner schwersten Sünde Beichtbekenntnis entringen: „Ich, der Österreichische Kunstverstand, habe mein ganzes Leben hindurch den Österreichischen Kunstverstand angewendet -“

Dieser erste Teil eines Aufsatzes (der zweite sollte über Richard Gerstl sein), wurde in der Sonntagsbeilage der „Wiener Kronenzeitung“ vom 25. April 1971 veröffentlicht. Das erklärt die wenigen zeitbedingten Anspielungen.

Kokoschkas Erinnerung ist nicht betragt, er kennt die Wiener Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die so klein wie die unsere war. Seine Persönlichkeit erschreckte die damalige Gesellschaft nicht.

(Unsere jeweils tonangebende Schicht, die man sich ähnlich dem Kernfett auf der Rindsuppe vorstellen soll, aber weniger gehaltvoll, nimmt das Einmalige nicht zur Kenntnis, sie sucht das Wunder bei den Salonmalern, die auch oben schwimmen, weil sie einen leichten Beruf haben).

Daher wurde Kokoschka zwar von wenigen erkannte, aber auch von wenigen verkannt, denn nur wenige nahmen ihn zur Kenntnis.

Einige vorgekommene Skandale zählen nicht, sie erscheinen in den Zeitungen und verschwinden wieder, eine ewige Ablöse von Nichtigkeiten für die Hirne ihrer Leser. Im Gasthaus hebt einer nach einem solchen Skandal den Kopf und sagt: „Der Kokoschka-“,aber er vergisst sofort, was er sagen wollte.

Was damals in Wien geschah, berührte die Welt; der Wiener wurde davon nicht berührt. Die entdeckenden Wiener Schulen der Medizin, der Musik, der Philosophie usw., sie fandne ihre Entsprechung bei Kokoschka und Gerstl, vielleicht auch bei Schiele. (Was für eine Frechheit es heute bedeutet, ein reaktionäres, regierendes Regiment von Salonmalern, von Rückkehrern zur verpappten Einbrennküche, als „Wiener Schule des phantastischen Realismus“ zu bezeichnen, sei hier den Unterstützern dieser Kulturanschmeißerei gesagt.) Klimt übte allzu lange seine romantische Malerei, er dachte dekorativ, seine flachen, gesüßten, vom Ornament umgebenden Frauengesichter gelangen nicht. Die Realität der Frau erkannte Kraus, Weininger, Schönberg, Gerstl und Schiele besser. Kokoschka wurde auf diesem Gebiet Spezialist.

Anthony Bosman schreibt in seinem Kokoschka-Buch: „-Der Jugendstil ist auch Kokoschkas Ausgangspunkt gewesen. Als er seine Studien in Wien begann, war Gustav Klimt dort der einzige Maler mit Format, und in dessen geistiger Sphäre bewegte sich auch der lithographische Zyklus-“ Bosman irrt, er geht von falschen Voraussetzungen aus und zieht falsche Schlüsse – eine Berufskrankheit! Bereits „Die träumenden Knaben“ zeigen die Unabhängigkeit Kokoschkas von jeder Stilrichtung, eine notwendige Voraussetzung der Persönlichkeit. Wie ein Funke fliegt anfangs Schiele über ihr, aber sie ist bereits Feuer und bedarf dieser Zündung nicht.

Vor dem Ersten Weltkrieg wütete der Jugendstil. Das todgeweihte Handwerk bäumte sich auf, verschied und vertrocknete zum Kunsthandwerk. Aber auch in dieser Zeit der abstoßend hässlichen Kredenzen, Suppenschüsseln und Tischlampen bildete sich, wie zu jeder Zeit, der feste Kern der Kunst, umgeben vom faulen Fleisch des Kunstgewerbes, der entbehrlichen Oberfläche, der auswechselbaren, abnehmbaren Dekoration.

Adolf Loos - dem Schwachköpfe heute seine Geradheit vorwerfen -, Arnold Schönberg und Karl Kraus ließen sich von Kokoschka porträtieren, um die vorhandene geistige Verwandtschaft zu beweisen. (Wie in der Porträtkunst der kluge Auftraggeber mit dem guten Maler verbunden bleibt, s bleibt der schlechte durch das Machwerk des Salonmalers fixiert, solange dieses existiert.)

Ein gutes Porträt ehrt den Auftraggeber, ein schlechtes verursacht das Gegenteil.

Von dem bürgerlichen Verfallsdirigenten und späteren Reichsmusiker Richard Strauss gibt es kein Kokoschka-Bild. Wozu auch?

(An dieser Stelle sei dem ORF gesagt, dass er durch das Verschweigen des englischen Richard-Strauss-Filmes eine schwere Schuld auf sich lädt.)

Ich weiß nur von zwei Kokoschka-Bildern in hiesigen Privatsammlungen. Sind es nicht mehr, so passt das zu dieser blinden Stadt, diue jeden schlechten Stich und djede farblose Reproduktion dem Original vorzieht. (Ihre Originale heißen elfriede, ernst, heinz, herbert von, usw.)

Im Zweiten Weltkrieg emigrierten die Besitzer von Kokoschka-Bildern oder sie wurden umgebracht, wie Richard Lanyi, dessen Bild heute arg beschnitten im Museum des 20. Jahrhunderts hängt.

Damals kämpfte unsere Stadt gegen die Entartung. Viele Besucher der Ausstellung „Entartete Kunst“ sagten „Aha!“, als sie das erste und das letzte Mal Kokoschka-Bilder sahen.

Kokoschka könnte (63 Jahre länger lebend) auf Wien einen tieferen Eindruck gemacht haben als Gerstl, aber der Erfolg ist kein anderer. Er zeigte den hiesigen Hudlern ein Beispiel an Präzesion und Persönlichkeit, dem sie nicht nacheiferten. Denn die Persönlichkeit kann wohl vom Landstrich, auf dem sie geboren wird, mitgeformt werden, aber die anderen Mitgeborenen werden wiederum nicht beeinflusst. Zuletzt ein Wort an die Gemeinde Wien: Der Geburtstag Kokoschkas wäre Anlass zu etwas Großem gewesen. Sie hätte das Schloss Schönbrunn endlich von den Touristengruppen säubern können, um dort für die Welt die beste, würdigste Kokoschka-Ausstellung zu veranstalten. In den Räumen, die nicht mehr den alten Kaisern gehören, sondern unserer leider nur auf dem Papier stehenden jungen Republik.

Sie hätte vollständig und daher umfangreicher als die Londoner oder Züricher Ausstellung sein müssen. Wer die ausgeführten Projekte der Gemeinde Wien kennt, rede nicht von den Kosten.

PS: zum 65. Geburtstag von Fritz Wotruba erwarte ich wieder die Räumung des Schlosses Schönbrunn

 

in: Bau, Schrift für Architektur und Städtebau, 1966, S 34

und

in: Josef Mikl (Hrsg.), Monografie 1979, S 254 - 255

 

iSittlichkeit und Kriminalität, Ein Unhold, S 44 sowie Die Fackel, V:157, S 1.